Über die Kunst des Qigong-Gehens
von Walter Gutheinz
Es sieht schon komisch aus, unser Qigong-Gehen: Menschen, die uns im Park beobachten, bleiben meist belustigt stehen; Kinder äffen uns gerne, aber oft mit wenig Ausdauer nach, und Hunde werden eher nervös und aggressiv, wenn sie unseren “Wackelgang” erspähen. Seltsam, daß gerade diese Methode des Gehens eine der wichtigsten Basisübungen im Qigong ist, ja mehr noch, schwere Gesundheitsstörungen heilen kann. Laien und schulmedizinische Fachleute staunen ungläubig, wenn man ihnen erzählt, daß dieses einfache Gehen – insbesondere die nierenstärkende Variante – eine wichtige Rolle bei der Heilung von Krebs spielen kann.
Vor allem im Mutterland des Qigong – in China – gibt es darüber schon längere Erfahrungen. Josefine Zöller, eine Berliner Ärztin, die viele Jahre in China lebte und studierte, hat uns in den achtziger Jahren zum ersten Mal in Deutschland mit diesem relativ jungen Übungssystem des Medizinischen Qigong vertraut gemacht. In ihrem lesenswerten, aber leider für Übungszwecke wenig geeigneten Buch “Das Tao der Selbstheilung” berichtet sie in den letzten Kapiteln über das sogenannte “Neue Qigong”. Dabei wird die selbst an Krebs erkrankte, mehrfach operierte Kunstmalerin Guo Lin aus Peking als Initiatorin dieser neuen Bewegungs- und Atemmethode angeführt. Frau Zöller, die Frau Guo Lin noch persönlich kannte, ist tragischerweise auch an Lungenkrebs verstorben!
Inzwischen hat sich jedoch hier in Berlin seit Beginn der neunziger Jahre eine aus Peking stammende Ärztin – Frau Li – niedergelassen, die die Guo-Lin-Gehmethode authentisch weitergeben kann und damit einer Reihe von Schwerstkranken im Berliner Raum geholfen hat. Auf den 1. Deutschen Qigong-Tagen in Ulm/Vöhringen 1994 hat Frau Li erstmals ihre Arbeit einem größeren Publikum präsentiert und einige geheilte Krebspatienten vorgestellt.
Nach Auskunft meiner Lehrer – Prof. Cong und Dr. Wenzel – war es jedoch nicht Frau Guo Lin alleine, die die neue Gehmethode in den sechziger Jahren ins Leben rief, sondern es müssen mindestens zwei weitere Qigong-Meister an der Entwicklung dieses Übesystems beteiligt gewesen sein. Alle 3 zusammen haben sich – so wird berichtet – äußerst kooperativ zueinander verhalten, was man von ihren Adepten und Schülern heutzutage nicht immer behaupten kann, weil aus den verschieden eingefärbten Varianten gern ein “richtig” oder “falsch” gemacht wird.
Unbestritten bleibt die Tatsache, daß die neuen Gehschritte ihre Wurzeln in viel älteren, weit in die Geschichte der Daoyin-Übungen hineinreichende Methoden haben. Aus der Zen-Meditationspraxis ist bekannt, daß Übende ihre Sitzungen stets durch meditatives Schreiten in den Pausen auflockerten. Und auch heute läßt sich das Qigong-Gehen sehr gut als Ergänzung zu einer einseitig sitzenden Übungspraxis verwenden!
Ebenso sind die Bewegungen der 5 Tiere, die der im 2. Jh. n. Chr. lebende Arzt Hua Tuo erstmals entwickelte, in die Methodik der Gehübungen mit eingeflossen. So erinnert das herzstärkende Gehen an die Bewegung des Affen, das nierenstärkende Gehen an die Geschmeidigkeit des Tigers und beim milzstärkenden Gehen kann man sich leicht einen Bären vorstellen. Und wie beim Kranich-Qigong tippen wir auch beim Lungengehen mit dem Großzeh auf die Erde, so als würde der Vogel Ringe auf’s Wasser zeichnen.
Für den Qigong-Unterricht ergeben sich aus diesen Querverbindungen übrigens interessante Übungsarrangements: So erlernt sich die jeweilige Gehart viel leichter, wenn diese auf dem Hintergrund der entsprechenden Tierbewegung vermittelt wird, ein didaktisch-methodischer Trick, der mir schon manchen Übungsabend gerettet hat. Vordergründig mag es ja total langweilig sein, eine Übungsstunde nur mit Gehen zu bestreiten. Und ein Wochenendseminar, das ausschließlich nur das Thema Gehen zum Inhalt hat, ist sicherlich nicht die große Zugnummer! Gehen, so glaubt manch einer aus der Qigong-Gemeinde, das kann doch jeder.
Doch die Tücke steckt im Detail! Will man die Bewegungen rund und harmonisch ausführen, so erfordert das einen beträchtlichen Übungsaufwand, und gewisse Haltungs- und Bewegungsmuster aus unserem Alltag stellen uns allzuoft vor große Probleme. Da sind z.B. Knie und Hüften steif, Schultern und Nacken blockiert, die Handgelenke festgehalten, die Links-Rechts-Koordination gestört oder die Atemregulation funktioniert unzureichend. Hinter all diesen Phänomenen können oft tiefe, ungelöste Konflikt- und Problemmuster von lebensgeschichtlicher Bedeutung stehen.
So betrachtet ist das Qigong-Gehen eine beträchtliche Herausforderung, unsere körperlich festgefahrenen Energiemuster zu überprüfen und gegebenenfalls abzuändern; und das ist eine Aufgabe, die uns auf allen Stufen unserer Qigong-Entwicklung begleitet. Wie bei allen Qigong-Übungen bedarf es auch beim Gehen der Ausdauer und Beständigkeit im Üben, soll ein positiver Effekt auf die Gesundheit erreicht werden. Täglich wenigstens 15 Minuten sind m.E. eine Mindestanforderung, wenn keine chronische Erkrankung vorliegt; bei schwereren Gesundheitsstörungen – besonders bei Krebs oder Aids – muß die Übungsdauer beträchtlich (auf 1-2 Stunden täglich) ausgedeht werden.
Wie oben schon angedeutet, unterscheidet man 5 verschiedene Gehmethoden, die entsprechend für die jeweiligen Organe eingesetzt werden. Alle Methoden bedürfen spezieller Vorbereitungs- und Abschlußübungen, die ebenfalls von großer Bedeutung sind.
Das Nierengehen
Die grundlegendste und wichtigste Gehtechnik ist das Nierengehen. Sie führt zu einer Stärkung des Nieren-Qi, unserer Basisenergie: Konstitutionelle Schwächen, allgemeiner Vitalitätsmangel, psychischer Streß besonders in Form von Lebensängsten aller Art, körperliche und geistige Entwicklungsstörungen bei Jugendlichen und Heranwachsenden, Erschöpfungszustände, vorzeitige Alterungsprozesse, sexuelle Störungen, Folgeerscheinungen von chronischen Erkrankungen etc. etc., all das kann eine Schwächung der Nierenenergie anzeigen.
In der Vorstellungswelt der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) speichert die Niere die vorgeburtliche Energie, das “Qi des frühen Himmels”, die Essenz oder, in unserem Sprachgebrauch, das genetische Kapital, das wir von unseren Eltern und Vorfahren mitbekommen haben. Im allgemeinen geht man in der TCM davon aus, daß dieses Kapital im Laufe eines Menschenlebens stetig verbraucht wird und der physische Tod energetisch das Ergebnis eines entleerten “Jing-Speichers” ist. Altchinesische, daoistische Lebenspflege hatte daher immer den sorgsamen Umgang mit der Nierenessenz – dem Jing- und dem daraus hervorgehenden Yuan-(Ursprungs-)Qi zum Ziel.
Gerade durch das nierenstärkende Gehen kann auch das “Qi des frühen Himmels” gekräftigt und wieder aufgefüllt werden. Ruhig, locker und leicht werden die Füße über die Innenkanten der Fersen aufgesetzt, wobei die Aufmersamkeit (Yi) stets folgt, d.h. auch in der Vorstellung die Erde bewußt berührt wird. Geht die Aufmerksamkeit zur jeweiligen Ferse und beim Abrollen des Fußes nach vorn zum Anfangspunkt des Nierenmeridians (Yongquan = Sprudelnde Quelle), so erdet sich der Geist, wird der ständige Fluß der Gedanken durch den Kopf nach und nach unterbrochen. Der Geist, das Feuer, das Yang kommt nach unten, und ihm folgt das Qi und das Blut. Dadurch entsteht eine zunehmende Festigkeit in den Füßen und Beinen, ein energetischer Zustand, den wir in unserer Qigong-Sprache als “unten fest – oben leicht” bezeichnen. Er ist das genaue Gegenteil der energetischen Alltagssituation, wo sich unsere Energie allzugerne und allzusehr in Brust, Schultern und besonders im Kopf konzentriert, dies vor allem im zunehmenden Lebensalter. Durch das Gehen wird das überschüssige Yang in der oberen Körperhälfte abgeleitet, Gedankenrasen, Ruhe- und Rastlosigkeit werden nach und nach beseitigt – ein nicht zu unterschätzender therapeutischer Effekt.
Mit dem Aufsetzen des Fußes an der Innenseite der Ferse findet gleichzeitig eine ständig Akupressur und Massage zweier Einschaltpunkte (Niere 6 und Blase 62) statt, die beide jeweils am Unterrand der Innen- und Außenknöchel lokalisiert sind. Diese Punkte haben Bezug zu zwei Sondergefäßen, dem Yin- und dem Yangqiaomai, welche ihrerseits am medialen Augenwinkel, dem Anfangspunkt des Blasenmeridians (Blase 1) enden. Durch die Akupressur dieser Punkte beim Gehen werden die Sondergefäße, die im Grunde “Abkürzungen bzw. Ausläufer” des Nieren- und Blasenmeridians darstellen, aktiviert, was zu heilsamen Wirkungen führt, vor allem wiederum im Bereich der Yin/Yang-Regulation: Überschüssige Yang-Energie wird reduziert und nach unten geleitet, der Kopf wird klar, das Herz ruhig, pathologischer Leberwind und Feuer im Herzen werden eliminiert. Schulmedizinisch bedeutet dies ein Abklingen von Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Schwindel und Blutandrang im Kopf. Auch ein damit möglicherweise in Verbindung stehender Bluthochdruck normalisiert sich innerhalb von hundert Tagen.
Wie bei einer Katze bewegen sich die Beine rund und fließend, die Knie sind elastisch und weich. Die Bewegungen wirken kraftvoll und geschmeidig, ähnlich denen eines Tigers. Sie werden durch die gegenläufige Bewegung der Arme unterstützt. Wie beim Diagonalschritt im klassischen Skilanglauf wird ein Bein zeitgleich mit dem gegenüberliegenden Arm belastet (voll) und die jeweils andere Diagonalachse bleibt leer. Hebt sich ein Bein mit dem gegenüberliegenden Arm (=Yang), so sinkt die andere Achse gleichzeitig (Yin). Aus diesem Wechselspiel ergibt sich ebenfalls eine mehr und mehr spielerische Regulation der Yin- und Yang-Energien des Körpers. Wenn das “klare Yang” nach oben steigt, sinkt das “trübe Yin” nach unten, wird alles Schlechte aus dem Körper entfernt, Qi und Jing werden somit gekräftigt und vermehrt; ein Effekt, der auch vielen anderen Qigong-Übungen zugrunde liegt.
Neben dem richtigen Aufsetzen der Füße ist die Körperdrehung in der Taille äußert wichtig. Es soll nach beiden Seiten gleichmäßig gedreht werden. Oft bleibt jedoch eine Seite vernachlässigt. Die Schultern werden nur passiv durch die Drehung in der Taille mitbewegt. Auch die Arme bewegen sich nur unwesentlich nach vorn oder nach hinten, sie folgen der Rumpfdrehung ebenfalls nur passiv und bleiben auf Hüftebene oder knapp davor. Sind die Hüften steif und unbeweglich, so wird diese Tatsache oft durch eine verstärkte Bewegung der Schultern und Arme kompensiert!
Becken- und Hüftsteifigkeit ist ein Syndrom, das sehr viele Ursachen haben kann, und es steht besonders mit unserem Verhältnis zum Unterleib, zur Sexualität in einem engen Zusammenhang; letzteres ist in der TCM ja auch eine Funktion der Nieren. Durch die ständige Drehung des Rumpfes um den Mingmen-Punkt, den hinteren Öffner des Dantian auf der Lendenwirbelsäule (zwischen 2. und 3. LW), wird das sogenannte Mingmen-Feuer entfacht, was die Nieren wärmt und nach oben steigend alle anderen Organe (besonders Milz/Magen und Herz/Lunge) mit Wärmeenergie versorgt.
Fehlt dieses Basisfeuer im Körper, so haben wir eine grundlegende Kälteproblematik, genannt Nieren-Yang-Schwäche, vor uns. Diese ist häufig verbunden mit kalten Füßen, innerlichem Frieren, allgemeinem Antriebsmangel und Müdigkeit, depressiven Ängsten und Rückzugstendenzen, Steifigkeit und Schmerzen in der Lendengegend, Miktionsstörungen, sexuellen Störungen wie Impotenz und Frigidität etc.. Auch das Problem der Früh- und Fehlgeburten ist hier zuhause, denn welcher ausgebildete Embryo möchte schon gern in einer Kühlschrankatmosphäre heranwachsen? So ist gerade für Schwangere das Qigong-Nierengehen ideal, und in meiner jetzt zehnjährigen Praxis als Qigong-Lehrer kann ich auf eine Reihe von hochvitalen und gesunden Babys zurückblicken, die von Qigong-gehenden Schwangeren auf einen guten Weg gebracht wurden.
Wird die Technik des Gehens immer besser beherrscht, so sollte sich die Aufmerksamkeit (Yi) mehr und mehr auf die Atmung richten: Beim Nierengehen der Anfängerstufe wird zweimal durch die Nase eingeatmet, wobei der Unterbauch jeweils ein wenig eingezogen wird. Dies entspricht der inversen Bauchatmung! Dann atmet man einmal kurz via Nase aus. Vor dem erneuten Einatmen steht eine kurze aber wichtige Atempause. Dieser Vierrerrhythmus wird verbal durch die Laute Schi-Schi-Hu-(Pause) vorgegeben, und damit wird auch das Tempo des Gehens gesteuert. Man hört auf die eigene Atmung, die immer feiner und leiser wird. Die Aufmerksamkeit und die Gedanken entziehen sich immer mehr der Umwelt. Wie bei vielen anderen Meditationstechniken geht man von der Außen- in eine Art Innenorientierung über; man tritt in die Stille ein durch Beachtung der eigenen Atmung.
Geht man länger – eine halbe Stunde und mehr -, so erreicht man durch das Gehen nach und nach meditative Zustände. Die ewige Gedankenflut ebnet sich ein, relativiert sich zusehends. Hilfreich ist dabei besonders, die Augen halb oder nahezu ganz zu schließen, um unsere Qi-Räuber – die Sinnesorgane – auszuschalten. “Blind” oder “fast blind” zu gehen, hat auch viel mit Vertrauen und Annahme zu tun, die Kontaktaufnahme mit der Erde intensiviert sich um ein Vielfaches. Ruhe und Gelassenheit, Vertrauen in die eigene Kraft, in den sprichwörtlich nächsten Schritt, das sind Themen, in denen sich der Zustand unserer Nierenenergie spiegelt.
Im fortgeschrittenen Stadium, wenn die Grundtechnik beherrscht wird, kann man die Einatmung erweitern und dadurch das Qi und Jing noch mehr vermehren und kräftigen. Aus dem zweimaligen Einatmen wird ein sechsmaliges, später sogar noch mehr. Dabei geht man dennoch locker und natürlich weiter, der Atem wird auf keinen Fall gepreßt, die Ausatmung (Hu) bleibt weiterhin ganz kurz. Wird dies zu anstrengend, kommt man wieder zum ursprünglichen Viererrhythmus zurück. Qigong-Meister wie Prof. Cong aus Fuzhou sind in der Lage, gar bis zu 81mal einzuatmen und überhaupt nicht mehr bzw. über die Haut auszuatmen. Eine Nachahmung sei allerdings vorerst nicht empfohlen!
Mit dieser Atemtechnik erweitert sich unser Lungenvolumen beträchtlich; der Sauerstoffgehalt des Blutes steigt auf Werte, wie sie sonst nur von Spitzensportlern erreicht werden. Damit einher geht eine grundlegende Verbesserung des Zellstoffwechsels. Das vergrößerte Sauerstoffpotential im Blut sorgt für eine insgesamt bessere Zellatmung, die pathologische Entartung von Zellen, insbesondere die Bildung von Tumorzellen wird gestoppt, der Aufbau von gesundem Gewebe und starken Abwehrzellen angeregt. Der sprichwörtlich “frische Wind im Blut” und das durch das Gehen angereicherte Qi belebt das Immunsystem, sorgt für einen besseren Abwehrmechanismus.
Die Gefährlichkeit entarteter Krebszellen liegt in ihrem mörderisch schnellen Wachstum. Im wehrlosen Organismus vergrößern sich die Tumore äußerst rasch, wachsen infiltrierend in benachbarte Gewebe und metastasieren. Qigong-Gehen und der damit verbundene Atemmodus – das sog. Windatmen – beschleunigt innerzelluläre Umbauprozesse. Tumorgewebe wird von innen heraus isoliert, quasi ausgehungert und nicht bloß von außen her weggeschnitten oder durch Bestrahlung und Chemie bekämpft.
Natürlich gibt es kein Patentrezept gegen Krebs, und auch das Qigong-Gehen ist keines! Aber selbst in der Schulmedizin wird bei der Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie mit Hilfe künstlicher Beatmung auf eine Verbesserung des Immunstatus hingearbeitet. Doch warum sollten wir uns an künstliche Apparaturen anschließen, wenn der benötigte Sauerstoff und das in ihm enthaltene Atem-Qi auch ganz natürlich aufgenommen und damit die Entartung von Zellen gestoppt werden kann?
Nierengehen als Krebstherapie
Liegt eine Krebserkrankung vor, so wird das Nierengehen außerordentlich schnell durchgeführt, immer wieder unterbrochen von öffnenden und schließenden Handbewegungen vor dem Dantian. Die Handhaltung variiert je nach Stadium der Erkrankung. Während beim Gehen von Gesunden die Handherzen jeweils im Wechsel nach oben und nach unten gedreht werden – das erstere hat verbunden mit dem Heben des Armes eine mehr zuführende, das letztere verbunden mit dem Senken des Armes eine mehr ableitende Funktion -, so sollte der krebserkrankte Qigong-Übende seine Handhaltung einseitig abändern. Will er z.B. das an kranke Zellen und Abfallprodukte gebundene “alte Qi” vermehrt ausscheiden – vor allem im Früh- und Wachstumsstadium des Tumors -, so muß er ausschließlich die nach unten gerichtete, ableitende Handstellung beibehalten. Geht es um die Aufnahme von frischem, neuem und wirksamem Qi – z.B. bei der Rekonvalenszenz nach Krebsoperationen oder entkräftigenden Chemo- oder Strahlenbehandlungen -, so ist die Handhaltung nur zuführend nach oben ausgerichtet.
Auch der Beginn des Schrittes ist abgeändert. Normalerweise beginnt man bei der Einatmung mit dem rechten Fuß, die Ausatmung erfolgt auf dem linken. Chronisch Kranke müssen – laut Prof. Cong – dies genau umgekehrt praktizieren. Das ist jedoch nicht unumstritten! Bei der Guo-Lin-Methode wird jeweils im Wechsel 15 Min. rechts und 15 Min. links begonnen. Andere Stimmen erklären, daß der linke Fuß dann als erstes vorgesetzt wird, wenn der Krebsherd auf der linken Körperseite angesiedelt ist und auf der rechten Seite entsprechend ebenso.
Wie auch immer, atmet man rechts ein und auf dem linken Fuß aus, so wird, nach dem Rechts/Links-Verständnis der Chinesen, das nach unten sinkende Yin-Qi gehoben, das nach oben steigende Yang-Qi gesenkt, was eine mehr ausgleichende, Extreme dämpfende, harmonisierende Funktion hat. Atmet man links ein und rechts aus, wird das Yang-Qi gehoben, das Yin-Qi gesenkt; die natürlichen Wirkrichtungen von Yin und Yang werden also unterstützt, was eine mehr verstärkende, aufbauende oder tonisierende Funktion hat. Je nach Krankheitsstadium steht Ausscheiden oder Ergänzen, Ableiten oder Aufbauen im Vordergrund. Letztendlich ist aber immer beides vonnöten, und es ist die Kunst des Therapeuten beides gezielt im Wechsel einzusetzen. Hierbei muß er die sich immer wieder einstellende Mutlosigkeit des Kranken aufbrechen, die ja auch ein Problem der Nieren ist. Stellt sich Zuversicht und Gelassenheit beim Kranken ein, hat sich sein Nieren-Qi bereits in Ansätzen regeneriert.
Windatmung bei Asthma
Abgesehen von der Krebstherapie ist das Qigong-Nierengehen auch für viele andere chronische Krankheiten – z.B. Diabetes, Asthma, Herz/Kreislaufstörungen etc. – die Methode der Wahl, weil alle diese Krankheiten immer eine Nieren-Qi-Schwäche zur Grundlage haben. Für den Kranken ist die erste Zeit des Übens oft die anstrengendste: Er muß sich ständig überprüfen, ob alle vorgeschriebenen Regeln eingehalten sind, alle Körperpartien locker, Geist und Gefühle in Ruhe sind. Er muß viel Energie und Willenskraft einsetzen, über die er ja gerade nicht verfügt. So erinnert das Geschehen manchmal an den Verzweifelten, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen hat.
Natürlich ist das Qigong-Gehen nicht gänzlich unumstritten: Vor allem die Technik des Windatmens mit der verstärkten mehrmaligen Einatmung fordert immer wieder die Kritik der Atemtherapeuten heraus. Da in ihrer Arbeit viele Menschen Probleme mit der Ausatmung haben, weil sie die verbrauchte Atemluft nicht wegbringen können, wollen sie es nur schwer akzeptieren, daß beim Gehen nun gerade wieder die Ausatmung so reduziert und kurz erfolgen soll.
In der Vorstellungswelt der TCM arbeiten Lunge und Niere eng miteinander zusammen: Die Lunge schickt das Atem-Qi nach unten zur Niere. Diese ergreift es und hält es unten fest. Kann sie dies nicht, so bleibt das Qi oben und staut sich im Thorax, begleitet von einer Verengung der Bronchien. Dieser Mechanismus ist eine häufige Ursache von chronischem Asthma!
Die Niere kontrolliert die Ausatmung, die Lunge die Einatmung! Einatmung und Ausatmung sind funktionsabhängig. Da die Niere mit ihrem Ursprungs-Qi die Lunge befeuchtet, wärmt und nährt und beim Prozeß der Qi-Bildung und -umwandlung unterstützt, hat der nierenstärkende Gehvorgang eine kräftigende Auswirkung auf die Lunge und damit die Atmung. So gesehen erweist sich der Methodenstreit in der Übungspraxis als fehl am Platze. Denn körperliche Qi-Phänomene wirken mehrdimensional und offensichtlich nicht monokausal-mechanisch; eine große Herausforderung für unser westlich geschultes, dualistisches Denken!
Ergänzende Gehmethoden
Neben dem Nierengehen gibt es – wie oben schon erwähnt – entsprechend den 5 Zang-Organen vier weitere Organschritte:
Das Herz-Gehen ist schneller als das Nieren-Gehen und ähnelt der Bewegung des Affen. Durch das ständige Drücken der Mittelfinger auf die Laogong-Punkte der Innenhand wird der Energiefluß im Herz/Kreislaufmeridian stimuliert und so die Herzenergie gestärkt und harmonisiert. Neben dem Nieren-Gehen kann es bei allen Herz/Kreislauferkrankungen zusätzlich eingesetzt werden.
Das Milz-Gehen ist sehr langsam und ruhig. Es erinnert an die Bewegung eines Bären, der aber trotz seiner Tapsigkeit sehr beweglich in den Hüften ist. Das wechselseitige Heben und Senken der Arme und Beine tritt besonders in dieser Gehmethode hervor. Dadurch wird ununterbrochen das aufsteigende Milz- und das absteigende Magen-Qi angeregt. Dieses Wechselspiel, was ja für alle Übungen aus dem Bereich des Erdelements kennzeichnend ist, harmonisiert die Energie im mittleren Wärmer. Bei chronischen Krankheiten in diesem Bereich – z.B. Magen- oder Pankreaskarzinom – ist diese Art des Gehens von großer Bedeutung. Zusammen mit der ebenfalls den Bauchraum stark aktivierenden Vorbereitungsübung, die in alle Himmelsrichtungen ausgeführt wird, kommt es zu einer Anreicherung der Energie in der mittleren Leibeshöhle, was die dort sich befindenden Organe stärkt.
Das Lungen-Gehen zeichnet sich durch recht weite und hohe Armbewegungen aus, dadurch bekommt die Bewegung etwas vogelähnlich-fliegendes. Sie sorgt besonders für den freien Fluß des Thorax-Qi und des Meridian- und Abwehr-Qi, die ja allesamt in der Lunge gebildet werden. Unterstützt wird dies durch das ständige Zusammenpressen der Shang-Shang-Punkte am Ende von Daumen und Zeigefinger, wo der Lungenmeridian endet und der Dickdarmmeridian beginnt. Wird die Lungenenergie nur mangelhaft produziert, so sind alle anderen Organe geschwächt und in Mitleidenschaft gezogen. Das Lungen-Gehen hilft, diese allgemeine Qi-Schwäche zu beseitigen.
Der Lebergang ähnelt stark vom Ablauf her der Lungenmethode. Die Armbewegungen werden allerdings tiefer – vor dem Oberbauch – und nicht so weit ausgeführt. Statt der Shang-Shang-Punkte werden Daumen und Mittelfinger akupressiert. An letzterem endet der Herz/Kreislaufmeridian, der eine enge Beziehung zur Leberenergie hat, da Leber und Herzbeutel zur selben Schicht “jue yin” gehören. Zusätzlich wird durch das wechselweise Auftippen des Großzehs der Lebermeridian selbst aktiviert. Das Leber-Gehen ist natürlich bei allen chronischen Lebererkrankungen die Methode der Wahl.
Fazit
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das Qigong-Gehen in Verbindung mit den Vorbereitungsmethoden (tiefe Qi-Atmung / Dantian öffnen und schließen) und den Übungen mit Stimmeinsatz (Heilende Laute) ein umfassendes System der Regulation und Harmonisierung körperlich-feinstofflicher Energien ist. In medizinischer Hinsicht heilt das Gehen Krankheiten an ihrer Wurzel, beseitigt sowohl energetische Überschüsse als auch Mängel, gleicht Verteilungsstörungen des Qi im Körper aus. Gesunden erhält es ihre Vitalität und Lebensfreude. Wesentlich dafür ist einerseits die Intensität, andererseits die Ausdauer beim Üben. In diesem Sinne viel Spaß beim Gehen:Schi, Schi, Hu