Lehrerausbildung

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Gelassen das Beste tun

Über das Lehrerwerden und das Lehrer(da)sein

1. Einleitung

Die uralte Übungspraxis des Qigong hat in China auch eine spezielle Tradition der Weitergabe und Unterweisung hervorgebracht. Prägend war das traditionelle Meister – Schüler – Verhältnis, wobei es die vornehmste Aufgabe des Meisters war, charakterlich und moralisch geeignete Schüler zu finden, die ihm bedingungslos, manchmal bis zur völligen Selbstaufgabe folgten, um die Methode möglichst unverfälscht und authentisch zu erlernen. Im Idealfall wurden aus dieser oft sehr harten Schulung neue Meister und Lehrer geboren, sodaß eine ununterbrochene Kette von Lehrenden und Lernenden entstand, die bestimmte Übungsformen und -methoden nebst dem dazugehörigen Theoriegebäude tradierten .

Zwar gibt es meines Wissens diese Tradition im heutigen kommunistischen China auch noch, doch sicherlich immer seltener. Spätestens seit der Kulturrevolution ist Qigong zu einem Massenartikel geworden, als “Medizinisches Qigong” im Rahmen der Volksgesundheitsbewegung und Vorbeugemedizin über Funk, Fernsehen und Printmedien gefördert und propagiert. Beflügelt wurde diese Tendenz durch das zunehmende Interesse des Westens am Qigong. Heute kann mit Fug und Recht behauptet werden, daß Qigong zu einem regelrechten Exportschlager Chinas geworden ist, mit dem sich für chinesische Verhältnisse, auch recht viel Geld verdienen läßt.

Mit dieser Entwicklung einher ging allerdings oft eine Verflachung der Übungspraxis. Das Beherrschen der äußeren Formen, das Erlernen formaler Übungsabläufe, der Nachweis medizinischer Wirksamkeit von Übungen, die mehr und mehr wie “Pillen” gegen bestimmte Krankheitszustände eingesetzt wurden, rückte in den Vordergrund. Als “alte Zöpfe” abgeschnitten wurden dagegen viele esoterische Praktiken und mystische Theorien aus dem Qigong. Dadurch sind viele der heute angebotenen Übungen ihrer Ganzheit beraubt, Formen ohne Inhalt, Übungsprogramme entledigt des Anspruchs sich über sie auch spirituell zu entwickeln.

Andererseits hat eine demokratische Massenkultur und die Verbesserung der Kommunikationssysteme zum ersten Mal die Möglichkeit geschaffen, Qigong einer breiten Öffentlichkeit weltweit zugänglich zu machen. Hieraus ergeben sich ganz neue Anforderungen hinsichtlich der Lehrmethoden, Lerntechniken und Lehrer-Schüler – Beziehung. Das Lernen in Gruppen bekommt Vorrang gegenüber der Exklusivität des Meister – Schüler – Verhältnisses; die autoritäre, kritiklose Unterweisung weicht einem demokratischen, selbstbestimmten Lernprozeß. Das heißt jedoch nicht, daß eine moderne Form der Unterrichtung nicht auch Lehrerpersönlichkeiten braucht, die nicht nur gut unterrichten und erklären können, sondern die auch mit Ausdauer, Kraft und vollem Bewußsein den wahren Sinn der Lebenseinstellung Qigong im eigenen Alltag zu leben versuchen. Und das ist , was Qigong – Meister seit altersher ausmacht!

2. Die Rahmenbedingungen

Qigong ist eine Selbstübetechnik, d.h., es bedarf erheblicher Ausdauer und Disziplin, wenn sich ihre Wirkung positiv entfalten soll. Diese Tatsache trennt innerhalb der Übenden sehr schnell die Spreu vom Weizen. Die exotische Anziehungskraft des Qigong, die anfängliche Faszination verliert rasch ihren Reiz, wenn es um das tägliche Üben geht. Viele Menschen erleben, die eigentliche Entwicklung im Oigong schon gar nicht mehr, weil sie sich längst auf dem Jahrmarkt der Möglichkeiten neuen Methoden zugewandt haben.

Wer jedoch Qigong als Weg begreift und sich auf tägliches Üben einlassen kann, wird bald die grundlegenden Prinzipien begreifen, die allen Übungssystemen und Praktiken gemeinsam sind. Diese sind:

  • Die Vereinigung von Ruhe (yin) und Bewegung (yang). Zunächst gilt es Ruhe in das bewegte Üben zu bringen und in einem späteren Stadium aus der Ruhe – dem stillen Qigong, der Meditation – Bewegung entstehen zu lassen. Dies erzeugt eine äußerst wohltuende Yin / Yang – Regulation im Körper.
  • “Den Atem regulieren, das Herz beruhigen, den Geist leeren und den Körper entspannen”. Diese Essentials sind die Voraussetzungen für den “gehobenen Qigong-Zustand”, ein Stadium voll innerer Ruhe und Gelassenheit, das sich wohltuend vom “ICE – Tempo” unseres täglichen Lebens abhebt. Anstrengung, Mühe, Hast und Eile des Alltags kontrastieren dabei auffällig mit der Entspannung, Stille und Gelöstheit eines erfolgreichen Übungsprozesses; später kann sich das Körper- und Lebensgefühl der “Qigong-Welt auch im Alltag mehr und mehr durchsetzen, auch wenn es dabei oft zu Widersprüchlichkeiten kommt.
  • “Der Geist lenkt das Qi, das Qi lenkt das Blut”. Qigong ohne den Einsatz der Vorstellungskraft ist bloße Gymnastik. Es geht nicht nur darum, schöne Bewegungen auszuführen, den Körper geschmeidig und flexibel zu machen, sondern auch um eine Schulung des Geistes. Aufmerksamkeitsübungen, Vorstellungen und Bilder helfen den ewigen, oft quälenden und sinnlosen Gedankenstrom unseres Alltagsbewußtsein zu erkennen und zu durchbrechen. Das nennt man im Qigong die “Zähmung des Herzaffens”!
  • Damit einher geht die “Schließung der sieben Õffnungen” (Augen, Ohren, Nase, Mund, Beckenboden). Durch die Reduktion der Wahrnehmung und das Zurücknehmen der Sinneseindrücke gehen wir aus der Außenorientierung im Alltag in die Innenorientierung des Qigong-Zustandes über. Das verhindert die Zerstreuung und den Abfluß des Qi.
  • “Heben und Senken, Öffnen und Schließen” sind die Wirk­richtungen des Qi. Am Üben dieser Wirkrichtungen muß sich jede Qigong-Übung messen lassen. Oft sind dabei am Anfang die einfachen Bewegungen geeigneter als die komplexen. Betont wird normalerweise das Senken und Schließen, damít das Qi im Dantien – unserer energetischen Mitte – gesammelt und bewahrt werden kann.

“Das Feuer unter das Wasser bringen”, “Oben leer und unten voll”, “Das Erworbene stets im Innersten bewahren”, das sind Kernsätze in der Qigong-Sprache, die diesen Sachverhalt zum Ausdruck bringen. Die Sammlung des Qi im unteren Dantien steht immer im Mittelpunkt jeder Qigong-Übung, besonders zum Abschluß. Qigong ohne diesen Abschluß heißt alles wegwerfen, was man erworben hat.

3. Das Erwartungsproblem

Die Haltungen und Ansprüche der Teilnehmerlnnen sind zu Beginn des Qigong-Unterrichts oft geprägt von der Hektik, dem Stress und der permaneneten Überforderung im Alltag. Daraus erwächst der Wunsch nach Ruhe und Entspannung. Liegen Krankheiten vor, die vielleicht chronischer Natur sind, bestehen oft hohe Erwartungen an die Wirksamkeit vom Qigong. Nach jahrelangem Leiden – verknüpft mit einer Odysee durch diverse Arztpraxen – erscheint Qi Gong als letzter Rettungsanker, als Allheilmittel und Wunderwaffe, nicht zuletzt aufgrund aufreißerischer Berichte über sensationelle Heilungen mit Qigong.

Bei Letzterem ist natürlich eher Skepsis angebracht, und ein Kursleiter*in sollte die Erwartungen eher dämpfen, als aufputschen, die Methode also weder über- noch unterbewerten. Ansonsten setzt man sich zu sehr unter Erfolgsdruck! Oft kommt hinzu, daß gerade am Anfang des Qigong-Weges erhebliche Barrieren zu überwinden sind: Die Unfähigkeit längere Zeit schmerzfrei zu stehen oder zu sitzen; Kopf-, Kreuz- und Rückenschmerzen, die sich teilweise im Übungsprozeß noch verstärken können; Ungeduld, Lern- und Übestress, vor allem der Wunsch, alles schnell zu lernen und alles gleich richtig und besonders gut machen zu wollen; Konzentrationsmängel und Gedankenrasen etc, etc,. Jeder, der selbst einmal begonnen hat, weiß um die Phänomene!

“Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt”, so steht es im “Dao De Jing” und das gilt besonders auch für den Qigong-Weg. Lehrer*innen müssen also zunächst einmal ihre Schüler*innen ermutigen, ihnen helfen, sich so anzunehmen, wie sie sind. Wir müssen als Kursleiter*in Geduld und Motivation für Wachstum und Veränderung schaffen, wir müssen die unterschiedlichsten Motivationen und Ansprüche der Lernenden ertragen, erkennen und auch zulassen. Der eigene Anspruch und Ehrgeiz sollte also zunächst einmal zurückgehalten werden, d.h., wir sollten eher Ziele statt Zwänge setzen, die Eigenverantwortlichkeit jedes Schülers stärken, Personen neugierig machen und Veränderungen, seien sie noch so bescheiden und klein, erfaßbar und registrierbar werden lassen. Letzteres stärkt das Interesse und das Vertrauen in die Methode! Hat z.B. ein Teilnehmer steife Hüften, so hat er sich diese in der Regel auch nicht im Laufe von zwei Wochen erworben, und es wäre vermessen, wenn wir diesen Zustand durch zweï Übungsstunden korrigieren wollten. Andererseits dürfen wir ein solches Problem nicht individualisieren, es zum Stigma der betroffenen Person machen, sondern wir sollten Schritt für Schritt Veränderungen einleiten und aufzeigen. Dadurch bekommen die sich uns Anvertrauenden eine Idee vom Qigong und seiner Wirksamkeit. Die Gefahr der Anfängerkurse ist immer die, daß zu viel in den Unterricht hineingepackt wird, Lehrende und Lernende überfordert sind. Anders stellt sich die Situation im Fortgeschrittenenunterricht dar: die schon vorhandene Selbsterfahrung, das schon erworbene Eigenwissen, die angehäuften Diplome und Kursbescheinigungen können Übende arrogant und selbstherrlich werden lassen, mißtrauisch gegenüber jedem neuen Lehrer, den/die man erstmal antesten muß. Stolz, Zweifel und Konkurrenz verhindern zu begreifen, daß alle ernsthaft Lernenden auf einem gemeinsamen Weg sind, daß es nicht darum geht, besser, fähiger und weiter zu sein. Gerade in so einer Situation muß man als Lehrer*in immer das gemeinsame Üben in den Vordergrund stellen, selbst bescheiden bleiben, zeigen, daß man weiß und doch nichts weiß. Wer als Lehrer*in ernsthaft übt und sich selbst immer wieder neuen Erfahrungen stellt, braucht keine Angst zu haben vor Zweifel, Konkurrenz und Kritik. Er muß seinen Unterricht nicht zur Selbstdarstellung mißbrauchen, Qigong zur Unterhaltungsshow umfunktionieren. Gelassen das Beste tun und stets das zeigen, wo und wie man gerade ist, das verleiht dem Unterricht Authentizität! Auch wenn Übende wegbleiben, oder wir sie sogar selbst wegschicken müssen, weil wir ihnen nicht das geben können, was sie gerade suchen, dann sollten wir das nicht allzu persönlich nehmen, schon gar nicht auf einem kommerziellen Hintergrund. Die meist selbstauferlegte Notwendigkeit mit Qigong seinen Lebensunterhalt zu verdienen, kann ein großes Hindernis auf dem Weg sein, die Unterrichtsatmosphäre frei von Schaustellerei und Profilierungssucht zu halten.